Ausgerechnet als der katholische Hardliner Martin Lohmann die improvisierte Rednerbühne betritt, bricht über dem Kanzleramt die Sonne durch die Wolken. Er blinzelt, hält eine Hand vor die Augen, dann gibt er den Startschuss: «Liebe Freunde. Nun lasst uns gemeinsam für das Leben marschieren. Und vergesst nicht die Kreuze, wir haben jede Menge davon». Lohmann lacht über den eigenen Scherz. Der Chef des katholischen Fernsehsenders K-TV hat sich herausgeputzt. Er trägt einen Anzug, strahlt Souveränität aus. Allerdings gibt es für ihn im Moment auch keinen Anlass für Selbstzweifel: Das hier ist seine Party. Lohmann ist Vorsitzender des «Bündnis für das Leben». Diese Initiative ist die europäische Entsprechung der amerikanischen ProLife-Bewegung. Eine Bewegung, die nicht weniger als das Ende straffreier Schwangerschaftsabbrüche in Europa fordert. Der Protest richtet sich aber nicht nur gegen Abtreibung, sondern auch gegen den Einsatz von Verhütungsmitteln wie die Pille danach. Ginge es nach Lohmann und seinen Anhängern, dürften diese nicht einmal mehr nach Vergewaltigungen verschrieben werden. Wer schwanger wird, muss das Kind auch austragen, Ausnahmen gibt es nicht. Weil Gott allein über Anfang und Ende des Lebens entscheide, engagiert sich der Verein auch gegen pränatale Diagnostik und Sterbehilfe.
Das hier ist bereits der achte «Schweigemarsch für das Leben». Im Vorfeld hatte der Veranstalter um die viertausend Demonstranten angekündigt. Tausend mehr als im Vorjahr. Ich sehe mich um: Auch wenn mir das Schätzen von Menschenmengen schwerfällt, habe ich den Eindruck, die Prognose war nicht zu optimistisch. Martin Lohmann ist offenbar derselben Meinung. Er wirkt zufrieden, lacht immer noch über seinen Witz mit den Kreuzen. Er deutet auf eine Grünfläche links der Bühne, dort stapeln sich weiße Holzkreuze zu meterhohen Türmen: «Ein jedes Kreuz steht heute für ein abgetriebenes Kind.»
Ich bekomme eine Gänsehaut. Intuitiv ergreife ich die Hand meiner sechsjährigen Tochter: «Das sind keine Kinder», flüstere ich ihr ins Ohr, «bei einer Abtreibung, das sind Zellhaufen». Mein Mädchen verdreht die Augen: «Weiß ich doch, Mama. Das glauben die leider falsch». Mit bedrücktem Lächeln gebe ich ihr Recht. Natürlich habe ich meinem Kind längst beigebracht, dass Religionsfreiheit ein schwer erkämpftes Persönlichkeitsrecht ist. Ebenso selbstverständlich habe ich als Mutter aber auch nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich die Wissenschaften für eine ziemlich coole Sache halte, während Religion bei mir einen eher schweren Stand hat. Meine Tochter weiß das, und sie weiß auch warum: Kreuzzüge, Kondomverbot, vergoldete Bischofsstühle. Heute ist wieder so ein Tag, an dem wir nicht umhinkommen, über die fragwürdigen Seiten von Religion zu sprechen: «Guck mal, da drüben, da sind noch mehr Fundis», ich deute hinüber zu einer Gruppe von Abtreibungsgegnern mit grünen Plakaten, auf einem steht «Nie wieder Euthanasie». Ich bin fassungslos: Die setzen Abtreibung tatsächlich mit dem Dritten Reich gleich.
Jetzt fühle ich mich fast so ein bisschen wie im Zoo. Ebenso wie die schläfrigen Löwen und Panther hinter den Gitterstäben sind auch die Fundamentalisten nicht nur ein wenig traurige Gestalten, sie sind auch ziemlich gefährlich. Sie stellen Glauben über Wissenschaft, wenn sie die Aufhebung der säkularen Ordnung fordern. Und sie rütteln an den Grundfesten der Demokratie, wenn sie ungeborenes über bereits existierendes Leben stellen. Sie bedrohen Leib und Leben. Ich bemerke, dass ich jetzt richtig sauer werde. Warum gehen die denn eigentlich nicht gegen Kinderarmut oder für Chancengleichheit auf die Straße, warum wollen die denn unbedingt Kinder retten, die es gar nicht gibt?
Ich muss eine Weile ziemlich abwesend in die Menge gestarrt haben, denn plötzlich beginnt meine Tochter, ungeduldig an meinem Arm herumzuziehen: «Ich find’s ein bisschen langweilig, hier passiert doch gar nix.» Ich beschwichtige sie: «Wart’s ab, gleich geht es los!» Immerhin ist die rührselige Auftaktkundgebung jetzt vorbei. Während zwei von drei Rednerinnen über ihr persönliches Abtreibungstrauma sprachen (und sich geläutert ausgiebig in ihren Sünden suhlten), haben wir uns die meiste Zeit damit vertrieben, die heimlichen Gegendemonstranten im Publikum zu identifizieren. «Man erkennt sie an ihren intelligenten, wütend blitzenden Augen», sage ich, «aber ab und zu rufen sie auch freche Sachen. So mutig bin ich leider nicht.» Allerdings weiß ich von einer geplanten Störaktion der Gegendemonstranten, in die ich meine Tochter schon mal einweihe, um sie bei Laune zu halten. Ich verrate ihr auch, dass ich für später eine Trompete organisiert habe, die sie auf dem Schweigemarsch kräftig üben darf, wenn sie mag.
Lohmann gibt uns noch schnell Gottes Segen mit auf den Weg, dann setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung. Wer eine Hand frei hat, greift sich eines der weißen Kreuze und trägt es bedeutungsträchtig vor sich her. Ich schnappe mir auch eins, man weiß ja nie, wozu man es später noch braucht. Während der Schweigemarsch sich formiert, schaue ich mich nochmal um: Das anwesende Publikum rekrutiert sich offenbar aus sämtlichen demographischen Schichten der Gesellschaft, am stärksten aber aus der gesellschaftlichen Mittelklasse. Jedenfalls sind die meisten hier ziemlich gut angezogen, vielleicht haben sie für heute aber auch nur die Sonntagsklamotten rausgeholt. Ich sehe auffallend viele Jugendliche und Senioren; erst später werde ich herausfinden, dass vor allem diese beiden Altersgruppen in diesem Jahr verstärkt mit Reisebussen aus Polen eingekarrt wurden. Vereinzelt entdecke ich auch ein paar Pastoren.
Als wir ein Stück gelaufen sind, drehe ich mein Kreuz zunächst unauffällig herum, dann hebe ich es zaghaft empor aus der Menge. Schlagartig bin ich erleichtert. Es tut gut, sich in dieser radikalen Umgebung abzugrenzen, sich klar dagegen zu positionieren. Ganz sicher bin ich keine Antichristin, aber ein Zeichen gegen diesen Wahnsinn setzen will ich schon. Vielleicht auch ihn ein bisschen lächerlich machen. Sofort ernte ich pikierte Blicke. «Mein Kreuz steht für das Unglück, das Euer Gott vielen Frauen und Mädchen aufbürden will» sage ich halblaut vor mich hin und fühle mich dabei ein bisschen seltsam. Sekunden später grapscht jemand hinter mir nach dem Kreuz und reißt es mir mit Gewalt über den Kopf hinweg aus den Händen. Das ging ja schnell, denke ich, keine drei Minuten haben sie mich in Ruhe gegendemonstrieren gelassen. Im ersten Moment bin ich perplex. Dann schäme ich mich für meine Gelähmtheit, für das Ausbleiben jeglicher weitergehenden Courage. Hätte ich lauter protestieren sollen?
Als ich mich umdrehe, sehe ich den Menschen, der mir das Kruzifix über den Kopf gezogen hat: Ein älterer Herr, um die sechzig, starrt mich böse an. Ich beschließe, dass die Situation für sich selbst spricht. Sicher werde ich mich nicht mit einem verbohrten alten Mann darum prügeln, wer die Entscheidungshoheit über meine Gebärmutter hat, schon gar nicht vor meiner Tochter. Die macht sowieso schon ganz große Augen. Als ich ihr ein beruhigendes Lächeln schenke, schaut sie ein bisschen stolz zu mir rüber, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
Nach zehn Minuten kommen wir am Brandenburger Tor an. Schon von Weitem hören wir die fröhlichen Beats und wummernden Bässe, mit denen das Bündnis für sexuelle Aufklärung den vorbeiziehenden Schweigemarsch empfängt. «Da gibt es Luftballons», rufe ich meiner Tochter zu, und bin selbst erleichtert. Schnell laufen wir zur Auffüllstation. Die Ballons sind knallpink, eine Farbe, die ich sonst eher verabscheue, aber hier und jetzt kann mir der Gegenprotest gar nicht pink genug sein. Ich mag auch die Aufschrift der Ballons: «my body, my choice». Für meine Tochter nehme ich gleich drei. Behutsam binde ich sie ihr ums Handgelenk, damit sie nicht wegfliegen. Einen vierten knote ich an meine Handtasche. Ich beschließe, dass wir hier erst einmal Pause machen, um uns die Gegenkundgebung anzuhören und dabei ein wenig zu entspannen. Neben uns trommelt eine Frauengruppe in gehäkelten Ponchos arhythmisch auf Bongos und ich finde es ganz wunderbar. Ein junger Rastafari mit Bauchladen verteilt kostenlos in Goldpapier verpackte Kondome. Ich nehme zwei Handvoll, werfe sie wie Konfetti auf die Demonstranten und stelle fest: Gegendemonstrieren macht in Gesellschaft eindeutig mehr Spaß.
Auf dem Lautsprecherwagen hinter uns steht eine Frau mit einem überdimensionalen Diaphragma auf dem Kopf, es ist Sybill Schulz. Die Geschäftsführerin des staatlich anerkannten Familienplanungszentrums Balance sieht in ihrer Verkleidung ein bisschen albern aus. Keineswegs aber kommt sie so bösartig rüber, wie die Radikalgläubigen sie gerne darstellen. In deren Augen betreibt sie ein «Tötungszentrums». Weil sie Schwangerschaftskonfliktberatung anbietet und Frauen vor und nach dem Abbruch begleitet, wurde sie auf einschlägigen Webseiten sogar unter «Abtreiber» mit Namen und Foto gelistet. Erst am letzten Wochenende, erzählt sie, sei ihr wieder eine polizeiliche Anzeige ins Haus geflattert. Der Vorwurf: Sie mache Werbung für Abtreibungen. Seit mehr als zehn Jahren muss sich Schulz mit solchen „gezielten Diffamierungskampagnen» herumschlagen. Trotzdem lässt sie sich nicht in die Ecke treiben. Es sei ihr wichtig, dass die Klientinnen, die zu ihr in die Beratung kommen, nicht eingeschüchtert werden. Dass sie frei entscheiden können, ob sie ein Kind haben wollen oder nicht. Deshalb sei sie heute hier.
Der Auftritt von Schulz ist eine Wohltat für meine Nerven. Noch während ich dankbar applaudiere, kommen zwei Mädchen auf uns zu. Sie tragen pinke Vagina-Kostüme mit Reißzähnen, und bieten uns selbst gebackene Kekse an. Ich muss grinsen. Das hier ist eindeutig die coolere Party. Mein Kind findet das auch, nicht nur wegen der Kekse: Wie zufällig haben die Mädchen eine Trompete dabei und reichen sie meiner Tochter. Die bläst kräftig ’rein, sie klingt wie ein erkälteter Elefant. Ein bisschen so wie im Zoo, und wir müssen alle lachen. Wir können gar nicht mehr damit aufhören.