Risse

Der Rest vom Fest

Der Rest vom Fest ©Tine Mothes

Zuerst ist es nur ein Gefühl. Da taumelt einer, viel zu nah an der Kante. Ich drücke Lulejkas Hand. Was soll das? Ist der betrunken? In schlängelnden Bewegungen krümmt er den Oberkörper, als zöge ihn eine magnetische Kraft in das Gleisbett, als fiele er gleich dort hinein. Er wirkt konzentriert. Ein abwesendes Lächeln umspielt den Mund. Ich sehe mich um. Keiner scheint den schwankenden Menschen zu bemerken. Ich denke nach, ratlos, hektisch, dann hocke ich mich zu Lulejka hinunter und schaue ihr prüfend ins Gesicht.

Bleib’ kurz hier stehen, kleine Maus.

Aber das geht nicht, sie hier alleine zu lassen. Ich kehre direkt wieder um, hebe sie hoch und trage sie bis zur nächsten Bank.

Ich komme gleich wieder. Schön sitzen bleiben, versprochen?

Ist gut, Mami.

Während ich auf ihn zulaufe, drehe ich mich ständig nach ihr um. Sie ist noch so klein, ich muss sie beschützen. Aber jetzt stolpert er, was macht der da? Wenn jetzt ein Zug kommt… Scheiße, wie viel Zeit habe ich? Ich verrenke mir den Kopf – Lulejka anlächeln, Info suchen –, bis ich die Anzeigetafel entdecke. Orange leuchtend, zwei Minuten. Mein Herz hämmert, im Laufschritt erreiche ich ihn.

Hey, du. Alles okay bei dir?

Ach, Mensch – na klar! So schön, dass du fragst. Magst du mir kurz helfen? Kannst du mir das hier abnehmen?

Er schöpft eine unsichtbare Masse aus dem Gleisbett und übergibt sie mir. Ich ergreife seine Hände und ziehe ihn von der Kante weg. Und nun? Wir bewegen uns behutsam, höflich. Ich ringe unauffällig um die Führung, wir schöpfen, schieben und ziehen. Wie eine Yoga-Übung oder ein Tanz ohne Musik. Was Lulejka wohl denkt? Ich suche ihren Blick und lächle. So wie eine Mutter, die alles im Griff hat. 

Ich komme gleich, rufe ich.

Es ist ganz toll, dass du mir hilfst – ist das dein Kind?

Hey, kommst du noch ein paar Schritte von den Schienen weg? Okay?

Natürlich. Du bist sehr nett. Nimmst du mal das hier? Und das.

Das hier ist seltsam. Mein Herz klopft, die fehlende Musik rauscht als überlaute Stille in meinen Ohren, bis der Zug einfährt, kreischend, Asystolie.

Ich muss los, mach’s gut.

Es ist nichts passiert. Türen öffnen sich, die herausdrängende Menschenmenge verschluckt mich. Ich lasse seine Hände los, treibe ab. Es ist ein Chaos. So schnell wie möglich bahne ich mir einen Weg zu Lulejka.

Siehst du? Ich bin wieder hier.

Das Kind schaut mich an, fragend. Solche Dinge passieren. Überall, ständig, auch in dieser Stadt. Unser Berlin, es war nie heil, wie soll ich dir das erklären? Als ich mich umdrehe, ist der Mann in der Menge verschwunden.

Irgendwann kam die BSR und holte das demolierte Klo ab. Eines Tages hatte es einfach dagelegen, im verdreckten Schnee vor dem Hauseingang. Dort thronte es auf einem Haufen Bauschutt, Bierdeckeln, Kippen und Geröll. Den verwaisten Weihnachtsbaum nahmen sie auch gleich mit. Nur der umgekippte Einkaufswagen des benachbarten Bio-Discounters erinnerte noch tagelang an den tristen Rest vom Fest. Und die Scherben einer zerbrochenen Wodkaflasche. Jeden Morgen, im Vorbeigehen, sieht Lulejka den Müll. Immer spricht sie darüber.

Mami, guck doch! Pfui Deibel. Das waren wieder die dummen Menschen, stimmt’s, Mami?

Dann antworte ich, mal flapsig, mal nachdenklich: Ach Mäuschen, du weißt doch, das ist Berlin.

Wenn du mir einen Zauberstab kaufst, Mami, dann zaubere ich den ganzen Müll einfach weg! Und weißt Du, ich zaubere noch viele gute Sachen.

Achja? Was denn, Lulejka?

Na, ich zaubere, dass niemals der Winter kommt, und immer nur Sommer und Frühling ist. Weil du das schön findest, Mami. Und außerdem, dass wir auch mal ein Meer in Berlin haben. Dann können wir endlich Urlaub machen.

Oh, Berlin am Meer. Das wäre schön.

Das mach’ ich, ehrlich. Aber natürlich nur, wenn du mir einen Zauberstab kaufst, Mami! Und für mich, wenn ich groß bin, ein rosa Haus, nein Lila mit allen Farben gemischt – und mit schwarzen Punkten, weil Schwarz und Lila sich nicht beißen. Und Schwarz ist deine Lieblingsfarbe, Mama Rahel.

Oder knallbunt Eighties?

Natürlich, wir tanzen dort immer Eighties.

Auf dem Sofa.

Natürlich, wir haben dort ein Sofa, auf dem wir immer hüpfen können, und einen Schornstein und ein Dach und ein Fenster und einen riesengroßen Balkon und ein Zimmer, wo es alles gibt, was ich brauche, also, na also ein Bett, ein Computer, ein Schrank und ein Tisch.

Sie ist ganz aufgeregt. Ich lausche ihr gebannt.

Aber das Haus braucht auch ein größeres Zimmer, damit ich reinpass’, und später meine sieben Babys, und Nûbar, und Nils, und natürlich Tim… und eine große Küche, wo du mich besuchen kannst, damit du mir immer helfen kannst. Und dann, wenn du mir einen Zauberstab kaufst, Mami, dann zaubere ich, dass die Armen das alles auch haben, was sie brauchen, und dass sie natürlich eine Wohnung haben und auf jeden Fall genug zu essen.

Ich schlucke. Die heile Welt bekommt feine Risse. Morgen, vielleicht gestern schon. Lulejka ist so klein. Was geht vor in ihrem Kopf? Ich weiß es nicht. Manchmal will sie wieder Baby sein. Dann wimmert sie hilflos, rollt sich zusammen in meinem Arm und verlangt Zärtlichkeiten. Dann lasse ich sie, halte sie fest in meiner Umarmung und singe Wiegenlieder.

Vor dem Spätkauf, eines Nachmittags im Dezember, erbricht sich ein alter Mann an die Hauswand. Die Kumpels lachen. Seine Kotzgeräusche übertöne ich in lauter Blödeleien. Das klappt, Lulejka hat nichts bemerkt. Tage später passieren wir einen Trupp BVG-Beamter in Uniform. Sie führen Schäferhunde mit sich. Beißend kalt weht der Wind. Mit vereinten Kräften tragen sie ein zerschlissenes Stoffsofa über die S-Bahn-Brücke. Auf dem zerfetzten Polster schläft ein Mann. Sein Hintern hängt zur Hälfte aus der Hose. Schnee fällt in zarten Flocken auf sein rotes, grobporiges Gesicht. Ich nehme Lulejkas Hand.

Bei den Süßwaren brüllt jemand. Wieder die verwirrte Nachbarin. Sie trägt die immergleiche, viel zu kurze Strickjacke. Weiße Wolle, Sommer wie Winter. Ihr graues Haar liegt offen auf dem gebeugten Rücken. Sie zetert und spuckt vulgäre Flüche auf die frisch gebohnerten Flure.

Ich will Lulejkas Hand nehmen und sie weit fort ziehen. Oder ihr zärtlich die Ohren zuhalten. Mich im Singsang ungezählter Banalitäten erschöpfen. Ich schnappe nach Luft.

Also… wir brauchen… unbedingt…

Lulejka hält die Liste. Wir haben sie mit Buntstiften auf Brotpapier gekritzelt. In Großbuchstaben, dazu putzige Bildchen, eines für jedes Ding. Eier. Milch. Käse. Butter. Klopapier. Neben uns schreit sich die Alte die Seele aus dem Leib.

Verrecktdochihrdummenfotzen. Ihrseiddochdasallerletzte. 

Ich beginne, zu schwitzen.

Wir könnten Pudding kaufen, Schnulejka, wir hatten lange keinen Pudding.

Weiß ich doch, Mama. Hab ich doch schon hundert Mal gesagt.

Ich weiß. Komm, kleine Tipptapp, wer zuerst beim Kühlregal ist.

Mami, eine Sache: Du brauchst unbedingt noch Kaffee!

Oh, Lulejka, du bist so ein Schatz. Wenn ich dich nicht hätte.

Wenn du mich nicht hättest, was? Dann stehst du morgen früh auf und rufst: Was?! Hilfe, wo ist denn mein Kaffee?! Bist du ganz verdreht im Kopf. Ist praktisch, wenn man ein Kind hat, oder? Das kann einem nämlich auch helfen. Du vergisst ja manchmal alle Sachen, stimmt’s, Mami? Aber ich vergesse nämlich nie welche Sachen.

Lulejka hilft mir, den Einkauf aufs Band zu legen. Sie wartet ungeduldig, bis ich bezahlt und alles im Rucksack verstaut habe und drängt auf die obligatorische Banane.

Nur ein kleiner Snäck, stimmt’s, Mami? Wir brauchen jetzt auf jeden Fall ’nen kleinen Snäck.

Dann flitzt sie zum Spaceshuttle. Den liebt sie, innig. Der Stecker ist gezogen, sie will fünfzig Cent. Wie immer passe ich, reinklettern darf sie trotzdem.

Achtung, Achtung, alle an Bord? Dann kann’s ja losgehen, also los geht’s, in den Weltraum, wir sehen uns zuhause, Mami.

Klar, Kuckuckstraße dreizehn.

Wiedersehen, Mamitschka.

Bis dann, gute Reise.


Bitte, Mami!

Ein ausgestreckter Kinderarm hält die Bananenschale aus dem Raumschifffenster. Ich nehme sie, hocke mich auf den Boden und drehe mir eine Zigarette. Ein mit Beuteln beladener Mann nähert sich. Er bleibt stehen und schaut Lulejka beim Spielen zu. 

Wenn’s die Mama erlaubt, ja?

Er riecht nach Schnaps. Aus seiner Jackentasche zieht er eine Tüte Schokobonbons und reicht sie Lulejka.

Für dich, Kleine.

Gleich darauf macht einen Schlenker zum Mülleimer und packt leere Pfandflaschen in seine Beutel.

Lulejka! Schnell, bedanke Dich bei ihm.

Mach‘ ich, Mami.

Lulejka beugt sich aus dem Fenster des Raumschiffs und ruft ihm lauthals ein Danke zu. Der Mann dreht sich um, ein breites Lächeln im Gesicht. Mir ist eigenartig zumute. 

Tipptapp, ich warte draußen– will ich sagen, eine rauchen, da rauscht die Verwirrte auf uns zu. Ich schnelle zurück, baue mich schützend vor Lulejka auf und verstelle ihr die Sicht. Dann erzähle ich mit ruhiger Stimme irgendeine Belanglosigkeit. Ich spüre, wie die Frau hinter uns stehen bleibt. Schneller Schulterblick: So viel Wut. Warum starrt die mein Kind an? Irgendwann stürmt sie weiter. Ich atme auf und schenke Lulejka ein warmes Lächeln. Dabei sehe ich ihr fest in die Augen.

Ohje, Mami. Die ist ein bisschen ballaballa, was?

Lulejka lacht. Ohne Angst oder Argwohn, einfach vergnügt. Ich lasse sie in meine Arme springen und wir gehen nach Hause.