Es ist eine dieser Geschichten, die ohne das Internet gar nicht denkbar wären. Faiz kämpft in Syrien für Bürgerrechte und Pressefreiheit und muss plötzlich seine Ermordung durch den IS fürchten. Um sein Leben zu retten, flieht er zunächst in die Türkei. Weil er dort seine journalistische Arbeit jedoch nicht fortsetzen kann, beschließt er die Flucht nach Deutschland. Wochenlang versteckt er sich im Herbst 2014 in mazedonischen Wäldern, sucht verzweifelt einen Weg über die Grenze nach Serbien und fürchtet dabei um sein Leben. Sein einziger Kontakt zur Welt: sein Handy, Facebook. Im Chat unterhält er sich mit Julia, die in Deutschland lebt. Jetzt begleitet Julia virtuell seine Flucht.
„Mein Akku ist gleich leer. Ein Chat von der Flucht“, erschienen als E-Book beim Digitalverlag Mikrotext, ist ein ungewöhnliches Stück Literatur. Es ist das Chatprotokoll eines Syrers und einer Deutschen, rund 80 Prozent des gesamten Gesprächs wurden veröffentlicht. Nichts ist Fiktion, es ist alles so passiert. Ein Echtzeitbericht.
Romane brauchen Helden. Faiz ist einer. Im Chat mit Julia ringt er um die Definitionsmacht über seine Geschichte. „Das ist ein Roman“, tippt er in sein Handy. „Es ist alles ein Abenteuer oder ein Roman. Ich habe fast alles aufgeschrieben.“
Er zweifelt („Wir Syrer werden als Tiere betrachtet. In allen Ländern dieser Welt“). Julia antwortet ihm zärtlich („Frier nicht zu sehr“). Aber Faiz tröstet immer wieder auch Julia („Mach dir um mich keine Sorgen“), er erträgt Gefängnis und Schläge („Es ist mein Schicksal“), er kapituliert („Ich bringe mich um“). Und dann beginnt er doch wieder zu träumen („Ab jetzt wird es für mich einfach“). Julia steht ihm bei, mit unglaublichem Feingefühl und Pragmatismus („Pass auf dich auf, aber wer bin ich, dir das zu sagen?!“).
„Mein Akku ist gleich leer“ macht mit Faiz einen Flüchtling sichtbar, macht ihn deutlich vernehmbar und endlich wieder zum Autor seiner Geschichte. Drastischer, unmittelbarer kann Literatur kaum sein. Poetisch ist sie ebenfalls. Einer dieser Momente, die einem direkt in die Magengrube fahren, ist eine stenografische Aufzählung von Eindrücken: „Kälte, dreckiges Wasser, Lügner, Menschenhändler, Mücken.“ Das ist ein Gedicht – und kein schönes.
Faiz: Wir müssen Menschen bleiben. Nur das.
Julia: Ja.
Faiz: In dieser schrecklichen Welt.
Julia: Du bist ganz sicher ein Mensch!
Faiz: Ja.
Kennengelernt haben die beiden sich 2014 in Gaziantep in der Südtürkei. Dort hatte die deutsche Journalistin Julia Tieke Aufnahmen für ein Audiofeature über syrische Radiomacher gemacht. Wenn Julia und Faiz sich aufeinander beziehen, in skeletthaft reduzierten Sätzen, schaffen sie genau das, was Literatur schaffen will: Sie schreiben gegen die Zustände an, sie schreiben gegen das Vergessen, für die Menschlichkeit. Sie schreiben sich selbst.
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veröffentlicht auf fluter.de