Aus dem Alltag einer Hospizschwester

Für „Tausend Tode Schreiben“ habe ich eine Erzählung geschrieben. Diesen und 999 andere Texte zum Thema Tod und Sterben könnt ihr auf minimore erwerben. Alle Autorenanteile fließen zum Berliner Kinderhospiz Sonnenhof.

Foto ©Tine Mothes

©Tine Mothes

 

#371

Ich war vierzehn Jahre alt, als ich bemerkte, dass ich ein besonderes Talent habe. Mein Großvater lag im Sterben, wir standen um sein Bett, meine Großmutter, meine Tante und ich, und als der Tod kam, da nahm ich Großvaters Hand. Ich blieb ganz ruhig. Bei seinen letzten Atemzügen habe ich ihm die Augen zugemacht. Ich war absolut beherrscht. Da bin ich vor mir selber erschrocken, dass ich so viel Selbstkontrolle hatte in dem Moment. So ist mein Berufswunsch entstanden. Den habe ich mir erfüllt.

Durch die Jahre im Hospiz habe ich ein ganzes Stück Lebensfreude verloren. Dieses ständige Sterben. Man kann das nur aushalten, indem man dagegen einen sehr schwarzen Humor entwickelt. Ich habe mich oft gefragt: Kann ich noch traurig sein? Also richtig, richtig traurig? Wenn meine Eltern sterben, ob ich dann weinen kann? Dann kam der Tag, an dem mein Vater einen Herzinfarkt erlitt und das tat mir leid und ich habe geweint, obwohl er am Leben war, da war ich so froh.

Früher war ich in der Kardiologie tätig. Keine Pausen, Dreizehn-Stunden-Schicht. Die Ärzte sahen den Menschen als Fall zum Geldscheffeln. Wer da einen Herzinfarkt erlitt, der hatte eben einfach zu viel Schwein gefressen. Typisch Alkohol, Raucher, Diabetes, fett. Sobald er tot war, ging es in den Abstellraum. Da bin ich angeeckt mit den Kollegen, denn das war mir ein Bedürfnis: irgendwo her noch eine Blume zu organisieren und dem Menschen draufzulegen, so als Geste der Achtung, vor dem Menschen und vor dem Tod.

Im Hospiz konnte ich das alles dann endlich ausleben. Wenn bei uns einer starb, dann haben wir ihm das Bett bezogen mit weißer Wäsche, wir haben ihn noch mal schön gewaschen, ihn frischgemacht, vielleicht auch, um den Schmerz abzuwaschen, die Übelkeit. Wir haben ihn gekämmt, sorgfältig angezogen, Blumen drapiert. Und wir haben darauf bestanden, dass die Abholer mit einem Sarg kommen. Manche kamen mit Säcken, die haben wir wieder weggeschickt.

Es war ein schönes Gefühl, in diesen Situationen dem Menschen beizustehen. Ihn zu verabschieden, dass er in Würde gehen kann. Das war so wertvoll. Ich habe dabei nie Routine entwickelt. Andere verfielen in privates Gequatsche, vielleicht eine Strategie, um damit klarzukommen. Diese eine Schwester, die ist oft wiehernd und kichernd über den Gang gefegt, wo ich dann dachte: Ist das hier ein Faschingsverein, was soll das? Ein bisschen Feingefühl, ein bisschen Respekt, hm.

Unter Kollegen war es kaum möglich, einander Trost zu spenden. Supervision fand selten statt. Nach einem Vierteljahr sind die Emotionen schon viel zu weit weg. Ich habe mich damit allein gequält. Wir hatten einen Raum für Stille, dorthin konnte man sich zurückziehen, aber da war man eben ganz allein mit sich und seinen Gedanken. Die Leitung sah es nicht gern, wenn einer weinte, dann wurde ihm gleich der Burnoutstempel aufgedrückt. Also hat man sich so lange beherrscht, bis der Dienst vorbei war und später heimlich ins Kissen geweint. Die Leitung hat das nie so richtig verstanden, was wir da eigentlich leisten. Klar wusste die, dass wir sterbende Menschen begleiten, aber was für ein Elend sich hinter so einer verschlossenen Tür versteckt, das hat sie nicht mitgekriegt, das kann man auch nicht wiedergeben. Das sind Eindrücke, Anblicke, Gerüche, die wirklich an die Substanz gehen. Für die Sterbenden waren sie mitunter so entwürdigend, dass ich mich selber schämte. Am Ende bedeutet der Tod oft Erlösung.

Es ist eine Gratwanderung. Entweder man stumpft total ab, oder man muss irgendwann damit aufhören. Ich habe diese Arbeit gern gemacht. Inzwischen habe ich sie aufgegeben. Jetzt fehlt er mir, der Tod. Klingt seltsam, oder? Aber es ist so.